Allgemein
Studieren an der Goethe-Universität
Karriereplanung & Jobsuche
Unternehmen berichten
Jobmessen
Unternehmensporträts
zurück zu "Karriereplanung & Jobsuche"

Bewerber, die Zeit der Bittsteller ist vorbei

Dr. Bernd Slaghuis, Karriere- und Bewerbungs-Coach

Arbeitgeber buhlen aktuell um die besten Talente und versprechen Wechselwilligen das Blaue vom Himmel. Die Anzahl der gemeldeten, offenen Stellen ist über dem Niveau vor Corona, gleichzeitig ist die Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer auf einem Allzeithoch. Laut einer XING-Studie denkt jeder Zweite der 30- bis 39-Jährigen aktuell über einen Jobwechsel nach.

Man könnte meinen, dass das Zusammentreffen dieser Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt die besten Voraussetzungen für beide Seiten sein sollte, schnell und leicht fündig zu werden. Doch viele Bewerberinnen und Bewerber sind weiterhin so sehr im verkrampft ängstlichen Bittsteller- Modus unterwegs, dass sie es sich selbst sowie auch Arbeitgebern und ihren Recruitern schwer machen, einander gut zu finden. Warum die Zeit der Bittsteller vorbei ist und was jetzt eine gute Haltung im Gespräch mit potenziellen Arbeitgebern auszeichnet.

Bittsteller-Bewerber: Lieber Arbeitgeber, lass‘ mich dich überzeugen

„Vielen Dank im Voraus, dass Sie meine Bewerbung berücksichtigt haben.“ und „Gerne überzeuge ich Sie im persönlichen Gespräch von meinen Kompetenzen.“ lese ich immer wieder in Anschreiben. Im Coaching diskutieren wir, wie selbst die winzigste Lücke im Lebenslauf noch glaubwürdiger unauffällig kaschiert werden kann. Mein Motto „Bewerber, zeigt Kante!“ kommt vielen Jobwechslern nach wie vor extrem gefährlich vor – schließlich glauben sie gelernt zu haben, dass ein neuer Arbeitgeber nicht zu viel von ihnen erfahren sollte. Ich frage mich, was noch alles geschehen muss – und wenn nicht jetzt, wann dann? – damit Jobwechsler Arbeitgebern und ihren Recruitern gelassener und selbstbewusster begegnen. Wie kommt es, dass diese Haltung als unterwürfiger Bittsteller immer noch so fest bei vielen Bewerbenden im Kopf verankert ist?

Arbeitgeber suchen gute Kollegen, keine Bittsteller

Lerne ich die Menschen hinter einer Bewerbung im Coaching näher kennen, dann sitzen mir spannende Persönlichkeiten gegenüber. Sie haben wahnsinnig viel gesehen, erlebt, erreicht und schon etliche schwierige Situationen gemeistert. Doch als Bewerberin oder Bewerber schlüpfen sie in die Bittsteller-Haltung und vergessen, was sie wertvoll und stark macht.

Es klingt banal, doch kein Arbeitgeber schreibt eine Stelle als „Bittsteller·in (m/w/d)“ aus. Am Ende eines Vorstellungsgesprächs sollten Deine Gesprächspartner mit dem guten Gefühl den (virtuellen) Raum verlassen und sagen: „Da haben wir soeben unsere/n neue/n [Titel der Position] und sympathische/n Kollegen/in kennengelernt.“

Wie sollen Deine Gesprächspartner genau dieses gute Gefühl von sympathisch menschlicher Nähe im Kontakt mit Dir wahrnehmen können, wenn Du ihnen vor allem mit ehrfürchtiger Demut, vorsichtigem Tiefstatus und der Angst vor Ablehnung begegnest? – Keine Chance!

Gegenseitiges Kennenlernen auf Augenhöhe

Ich predige es schon viele Jahre – und jetzt ist die Zeit umso mehr reif hierfür: Einem potenziellen neuen Arbeitgeber auf Augenhöhe zu begegnen – weder als unterwürfiger Bittsteller noch als der geilste Hecht, der einem zukünftigen Chef ungefragt die Welt erklärt.

Augenhöhe bedeutet für mich, Mensch sein zu dürfen, Stärken stolz wertschätzen und über Schwächen sprechen zu können, Wertschätzung durch gegenseitig echtes Interesse am Gegenüber zu zeigen, Klarheit über die persönlichen Werte und Ziele zu besitzen sowie die eigene Erlaubnis, über alles das zu sprechen, was in den nächsten Jahren im Beruf und Leben wirklich wichtig ist. In der Rolle als Bewerberin oder Bewerber echt ich selbst zu bleiben und mein wahres Ich mit allen seinen Facetten zu zeigen. Sich gegenseitig im Bewerbungsprozess ehrlich unter die Lupe zu nehmen und ohne Schönfärberei zu erkennen, ob es mit hoher Wahrscheinlich für die nächsten gemeinsamen Jahre passen wird.

Tschüss Bittsteller, hallo Mensch!

Es wird auch bei Dir keinen Schalter geben, den Du jetzt einfach umlegen kannst, um mal eben so den Bewerber-Bittsteller-Modus auszuschalten. Schließlich sind unsere innere Haltung und damit auch unser Verhalten über Jahre geprägt. Ich finde das Bewusstsein für Deine Haltung in der Rolle als Bewerberin und Bewerber wichtig: Sich bewusst zu machen, wie Deine Wortwahl in einem Anschreiben auf Leser wirkt. Sich bewusst dagegen zu entscheiden, Deine Wahl des Studiums unaufgefordert rechtfertigen zu müssen. Sich vor einem Vorstellungsgespräch bewusst daran zu erinnern, mit welcher inneren Haltung Du in das Gespräch gehen möchtest. Zu wissen, was Dir als Jobwechslerin oder Jobwechsler in den nächsten Jahren wichtig ist und sich ebenso bewusst zu erlauben, hierüber zu sprechen. Und einen angebotenen Arbeitsvertrag auch ablehnen zu dürfen, wenn Bauch und Kopf sich sicher sind, dass es die bessere Entscheidung ist.

Deine Sprache: Klarheit schaffen, statt überzeugen zu müssen

Streiche aus Deinen Unterlagen und Profilen alles, womit Du Dich – womöglich auch nur unterbewusst – selbst klein machst. Ausdrücke, wie „überzeuge ich Sie“ oder „habe ich mich unter Beweis gestellt“ signalisieren Unterordnung. Schaffe Klarheit ohne Schnörkel und Weichspüler. Sage, was Sache ist: In welcher Wechselsituation Du Dich momentan befindest, welche Deiner bisherigen Erfahrungen Du für eine Zielposition für besonders wertvoll hältst, was Dir in den nächsten Jahren im Beruf wichtig ist und was Du auch von einer Führungskraft oder dem Team erwartest, damit Du dort einen guten Job machen kannst.

Meine Erfahrungen sind eindeutig: Je mehr Klarheit Du ehrlich und frei heraus mit Deiner Bewerbung und in den Gesprächen schaffst, umso besser werden Arbeitgeber eine Entscheidung treffen können und umso höher ist damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass es vom ersten Tag an wirklich passen wird.

Deine innere Haltung:
Neugierde statt Prüfungsangst

Ist es nicht auch spannend, als Bewerberin oder Bewerber ein neues Unternehmen und seine Menschen kennenlernen zu können? Zu entdecken, wer dort wie und an welchen Themen arbeitet sowie welche neuen Chancen und Möglichkeiten sich Dir dort bieten können? Sich neugierig umzuschauen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob dies der Ort ist, an dem Du in den nächsten Jahren Freude im Job spürst und Dich gut entwickeln kannst? Es darf kribbeln und weil es um viel geht, darfst Du auch aufgeregt sein – das gehört dazu und lässt Dich fokussiert sein. Doch Angst und Furcht blockieren, erst Neugierde und Offenheit schenken Dir jenen Weitblick, den Du für solch eine wichtige Entscheidung benötigst.

Was ist Dein Bild einer guten Haltung als Bewerberin oder Bewerber und was möchtest Du Dir das nächstes Mal selbst bewusst machen, bevor Du in ein Vorstellungsgespräch gehst?

Das Ziel: Gegenseitiges Kennenlernen statt einseitigem Gefallen

Das Vorstellungsgespräch ist ein gutes Gespräch über gegenseitige Vorstellungen. Wer nur die Erwartungen anderer erfüllt, vergisst sich selbst. Beide Seiten sollten am Ende mit gutem Gefühl einen Arbeitsvertrag unterschreiben – und auch entscheiden, wann es besser ist, es nicht zu tun.

Bittsteller wollen nur gefallen und laufen daher Gefahr, die falsche Katze im Sack zu kaufen. Nutze die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt, um Dich ganz bewusst für eine neue Aufgabe sowie für ein Umfeld zu entscheiden, die zu Dir passen. Zu Deinem Selbstschutz sowie auch als Zeichen von persönlicher Stärke. Denn Bittsteller braucht heute kein Mensch.

Karriereplaner - Ausgabe: WS 2022/2023